StartseiteWurzel — Geschichten: Aliens

Aliens


Othello Othello Wulle Anton und Fiocco Lamm Bauwagen Anton


 

INHALT

 

Gefangen im Thema Nummer eins

Angst vor den Nachbarn

Wulle und der Arzt

Raunächte

Der Junge im Schrank

Die Corona-Insel

Aliens

 


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Aliens

Wie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

 

Anton

 

Eigentlich gehe ich gerne Gassi. Aber manchmal schlepp ich mich auch regelrecht durch die Felder oder durch den nahegelegenen Wald, vor allem, wenn das Wetter nicht schön ist. Dann freu ich mich auf unsere schnuckelige Wohnstätte, den trockenen, warmen Bauwagen. Zudem bin ich meist hungrig, weil ich früh morgens trotz Hunger nix runterkrieg. Und wenn in solch einem Zustand mir jemand über den Weg läuft, lade ich gewöhnlich zum gemeinsamen Frühstück im Bauwagen ein, womit sich die lethargische Phase meist auf die Zeit erweitert, die ich eigentlich Arbeitszeit nennen sollte.

 

Vor ein paar Tagen war Dorothea mal wieder die Rettung vor der Arbeit.

Eigentlich gut. Bettina und ich wohnen hier in unserem Bauwagen mit den Tieren und dem Garten schon ein wenig abseits, abgeschnitten. Und so sind mir solche Begegnungen gleichzeitig auch so was wie das Ohr zur Welt oder das Auge in eine Gesellschaft hinein, die grad ein bisschen seltsam ist.

 

"Sandra kann sich nicht selbst versorgen", erzählte Dorothea an diesem Morgen beim Bauwagenfrühstück. Dorothea arbeitet für Behinderte in einer größeren Wohngruppe und Sandra ist eine ihrer liebsten Schützlinge.

 

Während Dorothea und ich uns unterhielten, hatte Leila ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt, was verhinderte, dass ich mir Bettinas höchst schmackhafte selbstgemachte Aronia-Sanddorn-Marmelade aufs Brot schmieren konnte, denn Leila musste ja gestreichelt werden. Dorothea übernahm deshalb die Brotaufstricharbeit.

Wenn ich etwas mache, kann ich nicht reden. Ich kann immer nur eine Sache auf einmal machen. In dem Moment, wenn ich was anderes tue, dann stockt mein Redefluss und das ist für denjenigen, der mit mir redet natürlich doof. Und weil ich ja Leila streicheln musste, war ich jetzt lieber ruhig und ließ die eher Multitasking-fähige Dorothea ans Mikrofon.

 

"Sandra liegt im Bett und kann kaum gehen", fuhr Dorothea also fort, während sie mir das Brot strich. "Und einmal hat sie mir gesagt, dass in der Nacht ein Alien da war."

Sie griff nach der schweren gusseisernen Kanne und goss erst mir, dann sich selbst fein duftenden Tee in die Tasse als wäre sie die Gastgeberin. Ich finde so etwas schön, ein Zeichen von Vertrautheit.

"Hm?", machte ich, weil ich wollte, dass sie weitererzählte von ihrer Arbeit und von Sandra.

"Wir müssen zurzeit wegen den Maßnahmen mit Ganzkörperverhüllungen zu den Leuten in die Zimmer rein. Auch zu Sandra."

Draußen begannen zwei Hähne um die Wette zu krähen. Die Eier! Ich ließ die enttäuschte Leila alleine und hastete mit einem kurzen Blick auf die digitale Uhr zum Gasherd, wo die Eier in ein bisschen blubberndem Wasser mittlerweile wohl schon hart geworden waren. Na, egal. Ich mag zwar weiche Eier lieber, aber harte gehen auch.

"Die Leute sollen sich in der Wohngruppe daheim fühlen, wird immer wieder gesagt. Steht auch so in unserer Werbung. Es ist ihr Zuhause. Wird so gesagt. Aber dann stapft da Pflegepersonal wie ein Trupp Aliens im Zimmer herum." Dorothea lachte, aber es war kein fröhliches Lachen. "Sandra war richtig irritiert, als sie mir das erzählte."

"Hier." Ich reichte ihr ein gekochtes Ei. "Ist wohl ein bisschen hart geworden."

"Macht nix. Passiert mir auch immer wieder."

"Hast du auch solche Sachen an?"

Dorothea nickte. "Mundschutz. Grüner Plastikoverall, Handschuhe. Aber gestern wollte ich das nicht mehr."

"Die Vermummung?"

"Ja. Weißt du, das Schlimmste war, als ich Sandra mal festhalten musste, weil sie keinen Abstrich an sich machen lassen wollte. Wir haben sie zu dritt festgehalten. Ich die Füße, weil Sandra so gestrampelt hat, eine Kollegin hat die Arme um Sandras Brustkorb geschlungen, damit sie uns nicht schlagen konnte und der Arzt hat ihr den Kopf gehalten und so einen Stab in die Nase gesteckt." Sie schaute mich an und schüttelte langsam, aber irgendwie mit Entschlossenheit den Kopf. "Das mach ich nicht mehr."

 

Ich denk mir, vielleicht werden bei uns grad auch irgendwie die richtigen Knöpfe gedrückt, damit das alles geschehen darf. Und es geschieht ja auch. Jeden Tag, vermute ich.

 

"War sie dir böse?", fragte ich.

"Nein, ich glaube nicht. Aber etwas ist anders. Sie hat eine Weile eine Mauer aufgebaut und gleichzeitig war sie aber auch so bedürftig, so zerbrechlich in ihrem Bett. Und dann komm ich rein in meinem Hygieneschutzanzug mit Maske und Gummihandschuhen. Und dann ist sie wie etwas, das ich bearbeiten muss. Nicht eine Bewohnerin, sondern ein Stück Bewohner. Eine Behandlungseinheit."

 

Ich hatte Schwierigkeiten, mein Ei zu köpfen, weil Leila ihren Kopf wieder in meinen Schoß gelegt hatte, um ihre Streicheleinheiten zu holen.

Dorothea grinste und nahm mir das Ei weg, köpfte es und stellte es mir wieder hin.

"Und?", fragte ich.

"Gestern bin ich rein zu ihr. Mit Overall und mit Handschuhen. Und dann hab ich das Zeug einfach ausgezogen. Fast von mir weggerissen. Dann bin ich zu ihr hin und wir haben uns umarmt."

 

 

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